Seit einigen Jahren widmen sich Archive und Bibliotheken in immer größerem Umfang der Digitalisierung von historischen Handschriften. Die Strategien sind dabei recht unterschiedlich. Die einen möchten ihre „Kostbarkeiten“ zeitgemäß präsentieren, andere möchten umfangreichere Bestände in zweckmäßiger Form für die Benutzung verfügbar machen. Die Vorteile der Digitalisierung liegen auf der Hand. Die Originalquellen werden geschont und die interessierten Forscher und Laien können unabhängig von Ort und Zeit auf das Material zugreifen, ohne Tage oder Wochen in Lesesälen zubringen zu müssen. Das ist ein enormer Fortschritt, gemessen an der Praxis des 20. Jahrhunderts.
Solche digitalen Angebote – die zunächst nicht mehr als ein digitales Abbild der historischen Originalquelle bereitstellen – werden also mit großem Aufwand, sowohl finanziell als auch personell, erarbeitet und unterhalten. Schaut man auf die Zielgruppe dieser Angebote, dann stellt man fest, dass es sich an dieselben Adressaten richtet, die auch Archive und Bibliotheken aufsuchen, vielleicht auch einige mehr, die aber alle über die Fertigkeit verfügen, solche historischen Handschriften überhaupt entziffern zu können. Optimistisch geschätzt, reden wir also von ein bis zwei Prozent der Bevölkerung. Für alle übrigen sind diese Digitalisate lediglich schön anzusehen.
Dieses Bild sollte man sich vor Augen halten, wenn man verstehen möchte, warum HTR in der Geschichte der digitalen Erschließung und Nutzung historischer Handschriften ein völlig neues Kapitel aufschlägt. Mit einem Satz könnte man sagen: HTR gestattet den Schritt von der einfachen Digitalisierung zur digitalen Transformation historischer Quellen. Dank der HTR wird nämlich nicht nur das digitale Abbild einer Handschrift sondern auch ihr Inhalt in einer für jedermann lesbaren und von Maschinen durchsuchbaren Form – und zwar über hunderttausende Seiten hinweg – verfügbar gemacht.
Für die Nutzung historischer Handschriften bedeutet das nicht weniger, als das ihr Inhalt einen Interessentenkreis geöffnet werden kann, dem er bislang verschlossen blieb oder wenigstens nicht ohne weiteres erschließbar war. Damit ist nicht nur der Kreis der Laienforscher angesprochen. Auch für wissenschaftliche Fachvertreter aus Disziplinen, in denen eine historische Hilfswissenschaften nicht zum klassischen Ausbildungskanon gehören, wird die Zugänglichkeit zu den Inhalten der Quellen erleichtert. Neue Konstellationen interdisziplinären Forschens werden so ermöglicht. Und schließlich: da die Inhalte der Handschriften nun maschinell auswertbar sind, lassen sich Fragestellungen und Methoden der Digital Humanities weitaus leichter an das Material herantragen als zuvor.
Tipps & Tools
Lesetipp: Mühlberger, Archiv 4.0 oder warum die automatisierte Texterkennung alles verändern wird Tagungsband Archivtag Wolfsburg, in: Massenakten – Massendaten. Rationalisierung und Automatisierung im Archiv (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag, Band 22), hg. v. VdA, Fulda 2018, S. 145-156.